BOTANISCHE GÄRTEN Von Julia Müller Nach 50-minütiger Fahrt in der Zahn- rad-Nostalgiebahn auf Holzbänken mitten unter Touristen aus aller Welt lässt sich bei der Ankunft auf dem Bahnsteig noch nichts erahnen vom einzigartigen botanischen Garten, der Besucherinnen und Besucher erwartet. Alpendohlen schwingen sich durch die Lüfte, und die Aussicht lässt den Atem stocken. Das Bergpanorama mit Blick auf das mächtige Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau entschädigt bereits für die lange Anreise von Inter- laken auf die Schynige Platte auf 1967 m ü. M. Doch gut beraten ist, wer dem Perron bis ans Ende folgt und sich in die bezaubernde Welt der Schweizer Alpenflora begibt. Im fast 100-jährigen Botanischen Alpengarten Schynige Platte im Berner Oberland muss niemand eine Kalk- schutthalde hochklettern, um die gelb leuchtende Grossköpfige Gämswurz Doronicum grandiflorum aus der Nähe zu studieren. Niemand muss ein alpines Flachmoor aufspüren, um eine Besonderheit wie den Moorenzian Swertia perennis oder das dort typische Wollgras Eriophorum zu bewundern. Alpen-Schönheiten wie die Kugel - orchis Traunsteinera globosa aus der Familie der Orchideen werden quasi auf dem Silbertablett serviert. Auf einer Fläche von gut 8000 m2 wächst fast alles, was die Schweizer Alpenflora hergibt. «Rund 800 Arten von 900 möglichen sind es mittlerweile», erklärt die leitende Gärtnerin Jasmin Senn stolz. Den Grundstein für dieses alpine Pflanzenreich legten 1927 Vertreter*innen aus Forschung, Natur- schutz und Tourismus nach der Grün- dung des gleichnamigen Vereins, indem sie Weideland einzäunten. Seit seiner Entstehung hat sich der Garten laufend entwickelt und verändert. SPAZIERGANG FÜR DIE SINNE Auf gut begehbaren Kieswegen führt der rund ein Kilometer lange Pano- rama-Rundgang durch verschiedene Bereiche des Botanischen Alpen- gartens. Überall weisen Schilder darauf hin, was gerade blüht oder was es zu Auf 1967 m ü. M. liegt der botanische Garten, der mit seinen Holzbänken zum Verweilen lädt. «Für Besucherinnen und Besucher ist es spannend, alpine Gegensätze auf engem Raum zu sehen und zu lernen, was dahintersteckt.» den Pflanzen sonst noch zu wissen gibt. «Bitte riechen» lautet zum Beispiel die Aufforderung bei der Pracht-Nelke Dianthus superbus, die in Wiesen und Weiden auf kalkhaltigem Boden wächst. Jasmin Senn lässt sich nicht zweimal bitten: «Ein Knüller für die Nase!», schwärmt sie. Der Garten ist nach Pflanzengesell- schaften zusammengestellt, die schweizweit typischerweise in der Natur zusammen vorkommen, zum Beispiel auf Kalkschutt, Urgestein oder Lägerflur. Gewisse Bereiche wie Blau- gras-, Rostseggenhalde und Zwerg- strauchheiden existierten auf der Schynigen Platte schon lange, bevor der Alpengarten 1929 seine Tore fürs Publi- kum öffnete, und sind den Bedingungen angepasst. «Wir wollen möglichst alle Schweizer Alpenpflanzen in natürlichen Gesellschaften zeigen», so Jasmin Senn. Darum wurde er mit Einpflanzungen angereichert. Die passionierte Alpen- gärtnerin zeigt auf die «Riviera», in der Bündner, Tessiner und Walliser Flora auf dem Aussichtsberg im Berner Oberland wachsen: «Dieser Bereich ist speziell attraktiv für Touristen, die das fürs Wallis typische Edelweiss Leontopodium alpinum bewundern möchten – eine Pflanze, die viel Zeit braucht, bis sie etwas darstellt.» Künst- lich angelegt wurden zum Beispiel auch ein Heilpflanzenbereich und ein alpines Flachmoor, das sonst eindrück- lich die Kulturlandschaft Habkern/ Sörenberg auf der gegenüberliegenden Seite des Brienzersees prägt. IM JAHRESZEITENVERLAUF Für das Team des Alpengartens startet die Saison zwischen Mai und Juni, wenn die Jungpflänzchen aus der eigenen Anzucht in die Erde kommen und der ganze Garten etikettiert wird. Da die Pflanzen in den Bergen mit einer kürzeren Vegetationsperiode zurechtkommen müssen als im Flach- land, entfaltet der Garten im Sommer seine ganze Pracht. Skabiosen, ver- schiedene Arten von Habichtskräutern, Witwen- und Glockenblumen oder Steinbrech sowie viele andere Wild- stauden stellen sich jetzt im Juli zur Schau. Auch der Gelbe Enzian, der nur alle zwei bis drei Jahre blüht, hat mit seinen beeindruckenden Kerzen einen grossen Auftritt. Jasmin Senn und ihr Team trifft man häufig im Garten an; beim Jäten, Wege-Ausbessern, Wässern, F O T O S : G A P - P H O T O S , I D I H Ä B E R L I F O T O : B E N E D I K T D I T T L I | B I O T E R R A 5 / 2 0 2 4 21